Das fehlende Puzzleteil
Magst Du Puzzles? Ich schon. Sehr sogar. Ich kann Stunden, Tage, manchmal auch Wochen damit zubringen, ohne dass mir langweilig wird.
Aber: Sie müssen in echt vor mir liegen. Was ich nicht mag, sind Rätsel und ungelöste Dinge, die ich weder greifen, noch be-greifen kann. Und: sie müssen vollständig sein! Nichts frustriert mich beim Puzzlen mehr, als ganz am Ende festzustellen, dass ein oder mehrere Teile fehlen.
Das fehlende Puzzleteil
Mein Leben hat sich lange wie so ein Puzzle angefühlt, dem ein Teil fehlt. Ein Schlüsselteil. Es ist nicht so, dass ich an sich unzufrieden gewesen wäre, auch wenn ich viele Hürden zu überwinden hatte und habe und oft kämpfen muss, um meinen Alltag zu bewältigen, gibt es auch viel Schönes und Gutes für mich.
Aber ich habe mich immer fremd gefühlt, wie von einem anderen Planeten. Ich war anders als die anderen Menschen um mich herum, obwohl ich lange nicht hätte beschreiben können, worin dieses „Anderssein“ besteht.
Leben „auf einem anderen Planeten“
Gerade als Kind und Jugendliche konnte ich mit meinen AltersgenossInnen oft nicht viel anfangen, es sei denn, sie teilten zufällig meine (schon eher speziellen) Interessen oder kamen von sich aus auf mich zu. Ich wurde viel gemobbt und ausgeschlossen, weil ich „irgendwie komisch“ war. Ich habe vieles nicht verstanden und wusste nicht, wie andere das machen, so locker-flockig, lustig und leicht miteinander in Kontakt zu kommen, sich für Dinge zu begeistern, deren Sinn sich mir einfach nicht erschließen wollte.
Aber auch als Erwachsene fühle ich mich „anders“. Ich habe über die Jahre gut gelernt zu kommunizieren, auch Leute anzuschauen, obwohl es mir mega unangenehm ist und mich entweder so ablenkt, dass ich mich nicht mehr unterhalten kann oder enorm Kraft kostet. Aber ich habe gelernt, dass „man“ das so macht, Leute anschauen und so. Also habe ich es geübt. Immer wieder. Ohne zu verstehen, warum es mir so schwerfällt.
Wenn ich andere smalltalken höre, übers Wetter, über Kleidung, Filme, Parfüms oder ähnliches, komme ich mir vor wie in einer anderen Welt. Ich habe dazu meistens nichts zu sagen, kann mich auch nicht dafür begeistern, selbst wenn ich es versuche. Wenn sich Bekannte umarmen und Küsschen geben, wenn sie sich begrüßen oder verabschieden, schwanke ich jedesmal zwischen dem Wunsch, auch so begrüßt zu werden, „dazuzugehören“, und dem, bitte nicht berührt zu werden. Lange habe ich mich auch umarmen lassen und mich gefreut, dass jemand mich offensichtlich so schätzt, um mir diese Geste zukommen zu lassen. Aber wohl gefühlt habe ich mich nur bis zu einem gewissen Punkt. Von mir aus gebe ich sehr selten Umarmungen. Nicht, weil ich andere nicht mag, sondern weil ich meistens große Hemmungen davor habe und das Bedürfnis nur selten verspüre.
Angekommen.
Es gibt noch viele Themen und Beispiele, die mich „fremd“ fühlen lassen, weil ich ein Stück weit außen vor bin. Der Unterschied von jetzt zu früher ist, dass ich dieses Außenstehen nun bewusster suche und schätze.
Warum? Ich habe nach vielen Jahren der Suche und vielen Umwegen über zahlreiche Diagnosen, die nur einen Teil der Wahrheit darstellten, mein fehlendes Puzzleteil gefunden: Ich bin Autistin. Leider noch nicht offiziell diagnostiziert, weil sich der Weg dorthin derzeit noch sehr schwierig gestaltet, mit langen Wartezeiten und Bedingungen, die für Autisten oft große Hindernisse darstellen.
Meine Kindergärtnerin hat schon sehr früh den Verdacht geäußert, dass ich autistische Züge hätte. Damals war das Thema aber noch sehr stigmatisiert, meist eher auf Jungs bezogen und auf extremere Formen, sodass meine Eltern sich von dem Verdacht schnell distanziert haben.
Aber ich habe mich in den letzten Monaten sehr viel mit den Themen AD(H)S, Neurodivergenz und Autismus beschäftigt, da mein Kind sehr wahrscheinlich ADHS hat und ich mehr darüber wissen wollte. Je mehr ich mich mit den Themen beschäftigt habe, desto mehr ist mir klar geworden, was mit mir los ist.
Warum ich mich immer anders gefühlt habe, warum ich es nicht lange unter Menschen aushalte, warum ich so viel Zeit und Ruhe für mich alleine brauche, warum ich schnell überreizt und überfordert bin, vor allem, wenn sich Dinge (plötzlich) ändern. Warum ich Dinge auf meine Weise tun muss, damit sie mich nicht stressen, warum mich Smalltalk und Rollenspiele binnen Minuten so erschöpfen, dass der Rest vom Tag eine Qual ist.
Erleichterung
Ich habe viele Erfahrungsberichte und Fachliteratur zum Thema Autismus im Erwachsenenalter gelesen, Dokumentationen geschaut und mich jedesmal in den Beschreibungen so deutlich wiedergefunden wie sonst nirgends. Auch psychologische Screenings haben meinen Verdacht bestätigt. Das ersetzt keine offizielle Diagnose, ich habe es noch nicht „schwarz auf weiß“, aber ich bin mir sicher, weil ich endlich das Gefühl habe, zu landen, anzukommen nach so vielen Jahren der Suche.
Das ist eine sehr große Erleichterung für mich, weil ich mich immer fehlerhaft gefühlt habe, wie ein Mängelexemplar. Ich wollte mithalten, habe es auch immer wieder streckenweise geschafft, aber habe mich immer wieder in Erschöpfungszuständen und Verzweiflung wiedergefunden, weil dieses „Mithalten“ mit anderen für mich nur mit sehr großem Kraftaufwand möglich ist und sich trotz aller Übung nie richtig angefühlt hat.
Ich fühle mich jetzt nicht weniger fremd, aber das möchte ich auch gar nicht mehr. Mittlerweile mag ich mein „Anderssein“, weil ich es nicht mehr als falsch oder unzulänglich empfinde, sondern annehmen kann. Es gibt noch viele Baustellen, noch viele schmerzliche Dinge, die aufzuarbeiten sind, aber ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass sich alles zu einem Gesamtbild zusammenfügt, ein Bild, das nicht verzerrt und schmerzhaft ist, sondern ganz und rund.
Und jetzt?
Ich bin auf der Reise, versuche, mich durch diesen Blick besser kennen und schätzen zu lernen. Ich nehme Dich, wenn Du magst, gerne mit auf diese Reise. Hauptsächlich blogge ich für mich selbst, um meine Erfahrungen zu verarbeiten und festzuhalten, aber mir fällt es leichter, sie an jemanden zu adressieren, als wenn ich nur für mich in mein privates Tagebuch schreibe.
Und ich möchte dazu beitragen, Einblicke in das „Anderssein“ und Erleben von Autisten zu geben. Es ist nur meine persönliche Sicht, aber je mehr einzelne Sichtweisen jeder kennen lernt, desto mehr erfährt er, was das Autismus-Spektrum ausmacht, in dem sich jede:r Betroffene an einem anderen Punkt befindet und andere Facetten (er)lebt.
Ich freue mich, wenn Du mich begleitest. Gerne kannst Du mir auch Feedback geben. Schreib mir in die Kommentare oder unter e.gloess[at]gmx.net
2 Comments
Eva Glöß
Liebe Christine,
herzlichen Dank für deinen Kommentar! Schön, dich dabei zu wissen. ❤️
Eva
Christine Petzold
Liebe Eva,
gern begleite ich Dich auf Deinem neuen Blog. Ich bin gespannt, mehr über Dein Denken, Deine nun vollständige Person kennenzulernen.
Gesegnete Weihnachten
Christine