Achtsamkeit,  Autismus,  Persönliches

Alltag unter Dauerbeschallung

Wie ginge es dir, wenn du einen Film oder eine Serie sähst, in der Hintergrundgeräusche und Musik genau so laut sind wie die Dialoge? Wenn du dich extrem konzentrieren müsstest, um das Gesagte zu verstehen und trotzdem nicht alles mitbekommst. Wenn du zudem noch unsicher wärst, ob du den Inhalt richtig deutest, weil irgendetwas unausgesprochen zwischen den Zeilen mitschwingt, das du zwar wahrnimmst, aber nicht verstehst?

Ich vermute, du wärst schon nach kurzer Zeit genervt und würdest umschalten. Und wenn du doch bis zum Ende „durchhieltest“, wärst du geschafft.

Willkommen in meiner Welt!

Intensivere Reizwahrnehmung

Autisten haben nachweislich eine andere Reizverarbeitung als Nicht-Autisten. Ich nehme jegliche Reize intensiver wahr als andere. Das sind bei mir vor allem Geräusche, Gerüche, Berührungen und Bewegungen, die ich nicht selber steuere. Aber auch grelle oder – ganz unangenehm – blinkende Lichter, bestimmte Oberflächen und Texturen (unangenehme Stoffe, Nähte, Schilder in der Kleidung o.ä.) können mich irritieren bis wahnsinnig machen.

Geräusche beeinflussen mich im Alltag allerdings am meisten. So wie oben beschrieben, kann mein Gehirn nicht zwischen wichtigen und unwichtigen Geräuschen unterscheiden. Ich kann nicht einfach Hintergrundgeräusche ausblenden, während ich mich mit jemandem unterhalte oder ein Buch lese. Ich bekomme jedes kleine Geräusch in der Umgebung mit und sei es auch nur das leise Brummen des Kühlschranks, ein Knacken in der Heizung, der Wind draußen, bellende Hunde, ein schniefender Mitfahrer in der Bahn, die Krankenwagensirene in der Ferne oder ein Flugzeug. All diese Geräusche haben bei mir dieselbe Intensität, weil ich sie nicht automatisch filtere.

Das bedeutet, wenn ich mich mit jemandem unterhalte in einer Umgebung, die viele Geräusche mit sich bringt, z.B. in der Straßenbahn, in einem Café oder in einer Menschengruppe, muss ich in jedem Augenblick aktiv andere Geräusche „wegdrücken“, um mich gleichzeitig von Wort zu Wort aktiv auf das Gespräch konzentrieren zu können. Das kostet extrem viel Kraft. Ich bin es gewohnt und bekomme es meistens auch ganz gut hin, aber ich bin nach solchen Begegnungen, egal wie kurz sie waren, erschöpft und brauche Ruhe. Alleine.

Welche Auswirkungen hat das?

Um die Intensität zu verdeutlichen, ein für mich häufiges Beispiel: An sich gehe ich gerne mal aus, beispielsweise mit einer Freundin ins Restaurant. Ich mag das Flair, das Besondere, mal etwas anderes zu essen, den Tapetenwechsel, die Begegnung. Wenn ich allerdings vorher schon einen vollen Tag hatte und/oder mein Energielevel vorher schon niedrig ist, hatte ich zwar eine schöne Begegnung und gute Gespräche, aber fühle mich hinterher regelrecht krank. Ich komme mit starkem Ohrensausen, Gliederschmerzen, Druck im Kopf, einem unangenehmen Kribbeln und Jucken im Körper und einer bleiernen Müdigkeit nach Hause, kann aber paradoxerweise trotzdem lange nicht einschlafen und wache immer wieder auf. Einerseits, weil mir die Gespräche die halbe Nacht im Kopf herumgehen (was selten negativ, aber typisch bei mir ist), andererseits weil mein ganzer Körper überreizt und gestresst ist und manchmal sogar mehrere Tage braucht, bis er wieder im Lot ist.

Wenn ich mich also mit dir verabrede, ist mir das Treffen sehr wichtig, sonst würde ich es lassen. Niemand muss deshalb aber ein schlechtes Gewissen haben, mich mit ihm/ihr (an einem unruhigen Ort) zu treffen. Nicht du bist belastend, sondern die Umgebungsgeräusche und die Bedingungen, die mein Körper setzt. Es ist wie der Preis in Geldform, den ich für ein exquisites Essen bezahle. Ich würde es aber nicht tun, wenn es nicht auch seinen Reiz hätte, mal rauszukommen und wenn es mir nicht wichtig wäre, dir zu begegnen.

Was hilft?

Dadurch, dass ich quasi überall mit großen Geräuschvermengungen konfrontiert bin, sobald ich meine Wohnung verlasse, fühlt es sich für mich an, als sei ich unter Dauerbeschallung im Clubformat. Das klingt dramatisch, ist aber leider tatsächlich so. Jedesmal, wenn ich nach Hause komme, klingeln mir wortwörtlich die Ohren. Seit meinem 15. Lebensjahr habe ich auf beiden Ohren einen Tinnitus und ein Rauschen, ich habe mehrere Hörstürze gehabt, höre auf meinem linken Ohr schon seit Jahren nicht mehr klar durch das laute Rauschen und Fiepen, bin aber dafür trotzdem extrem geräuschempfindlich.

Nachts schlafe ich seit über zehn Jahren mit Ohrstöpseln, weil mich schon die Atemgeräusche meines Mannes neben mir wach halten. Dazu kommen noch Straßengeräusche, Wind, Regen, Geräusche noch wacher Mitbewohner im Haus, redende Menschen auf der Straße, die ich selbst bei geschlossenen Fenster nicht ignorieren kann.

Wenn ich alleine mit der Straßenbahn unterwegs bin, teilweise aber auch in der Schule oder auf Arbeit, trage ich NoiseCancelling-Kopfhörer, die aktiv Umgebungsgeräusche dämpfen. Wenn das nicht ausreicht, höre ich Musik, eine bestimmte Playlist, die mir hilft, mein gereiztes Nervensystem zu beruhigen. Die hat musikalisch keinen Sensationswert, aber gleichmäßige Rhythmen und Abläufe, die mir Halt geben.

Auch wenn es paradox klingt, dass ich einerseits Geräusche abdämpfe und andererseits Musik ins Ohr schicke – der Unterschied ist: Die Musik wähle ich selbst und bewusst. Die kann ich steuern, vorhersehen und sie übertönt das chaotische Durcheinander vieler verschiedener Geräusche, die ich nicht beeinflussen kann. Das macht die Lärmbelastung meiner Ohren zwar nicht weniger, aber ich empfinde deutlich weniger Stress dabei.

Was zu Hause für mich auch meistens sehr anstrengend ist, ist das wirbelige und lautstarke Spielen, Quietschen, Streiten oder Durcheinanderreden der Kinder. Am liebsten würde ich auch da Kopfhörer tragen, aber das geht nur sehr eingeschränkt, weil sonst das kommunikative Miteinander nicht funktioniert. Wenn ich aber zu sehr an meinen Grenzen bin, mache ich es trotzdem, da ich sonst schnell ausflippen kann, was ich nicht möchte.

Gibt es auch Vorteile?

So sensibel zu sein, hat natürlich auch seine guten Seiten: Wenn ich durch einen Wald gehe, erlebe ich eine Explosion von wunderschönen Empfindungen. Ich höre die Vögel singen, das Rauschen der Blätter, das Summen von Insekten, ich rieche den feuchten Boden, sehe überall tolle Farb- und Lichtspiele, entdecke winzige Details, die sonst fast niemandem auffallen, bestimmte Muster in den Baumrinden, kleine besondere Käfer, Blattformationen und vieles mehr.

Und ich finde es gar nicht so verkehrt, so sensibel zu sein. Denn dadurch hinterfrage ich auch immer wieder unsere gesellschaftlichen Tendenzen und Werte – gerade die Technisierung. So viele Vorteile sie einerseits auch hat, sie hat aber auch enorm umwelt- und gesundheitsschädigende Aspekte. Ich weiß nicht, ob ich da soviel drüber nachdenken würde, wenn ich nicht so empfindsam wäre.

Es gibt also auch Gründe, weshalb ich meine „Übersensibilität“ gar nicht missen möchte, denn viele intensive, schöne Empfindungen und Fähigkeiten würden mir damit auch verloren gehen.

Aber trotz des Schönen ist und bleibt sie eine alltägliche Herausforderung und ein Grund, weshalb ich schneller gestresst und erschöpft bin als andere.

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