Autismus,  Kreativität,  Kunst,  Persönliches

„Musterexemplar“

Dies ist die witzigste Zuschreibung, die ich kürzlich mal bekam. Bezogen darauf, dass ich häufig mein Skizzenbuch und Permanentliner dabei habe und Muster zeichne.

Wie treffend diese Bezeichnung tatsächlich für mich ist, konnte die Person gar nicht wissen. Denn mir wurde erst im Laufe der letzten Zeit klar, wie sehr meine Wahrnehmung von Mustern geprägt ist. Bislang war das für mich völlig normal, dann las ich immer wieder, dass dies eine Eigenheit von vielen Autisten ist, immer und überall Muster wahrzunehmen und fragte andere Leute, ob ihnen das auch so geht. Nein, es geht nicht vielen genau so.

„Ach, das ist ja interessant!“ Ja, finde ich auch! Sehr interessant sogar.

Was bedeutet Musterwahrnehmung?

Egal, wo ich mich befinde, ich entdecke überall Strukturen, Linien, wiederkehrende Muster, Abweichungen und Besonderheiten. Ob dies das Raster der Wandfliesen im Bad ist, die Rillen in Heizkörpern, Fugen von Gehwegplatten oder Pflastersteinen, Schriftformen, Steinansammlungen auf dem Fußweg, Schienenstränge, Baumrinden oder Rauhfasertapeten: Ich entdecke überall spannende Muster und Formen, nicht selten auch Figuren, Tiere oder Gesichter. Die meisten anderen um mich herum nehmen die Dinge – glaube ich – eher im Gesamtzusammenhang wahr. Zum Beispiel sehen sie für gewöhnlich eher einen Baum als Ganzes statt seine vielen einzelnen Details, wo mir sofort die Blatt-Licht-Strukturen oder die detaillierte Textur der Rinde ins Auge fallen. Das heißt nicht, dass anderen keine Details auffallen, aber ich vermute, es ist nicht so ausgeprägt und grundsätzlich wie bei mir.

Der Gully vor unserem Haus fasziniert mich schon eine Weile.

Das ist auch ein Grund, weshalb ich bei Spaziergängen oft nicht schnell laufen kann, weil ich ständig überall etwas sehe, was mich anzieht. Manchmal auch von Gesprächen ablenkt. (Also wenn ich mal wieder mitten im Satz aufhöre zu sprechen…) Anders ist es, wenn ich mir bewusst vornehme, zackig zu laufen, um mich auszupowern oder Dampf abzulassen. Dann kann ich die Muster auch schon mal ausblenden. Oder aber ein Gespräch zieht mich so in den Bann, dass ich die Formen und Strukturen nur verschwommen wahrnehme.

Nicht immer gehe ich den Dingen, die mir auffallen, intensiver nach, das mache ich eher phasenweise. Aber auffallen tun sie mir trotzdem.

Auf einem Abendspaziergang habe ich kürzlich einiges fotografiert, was mir beim Laufen so auffällt…
…und sie in gezeichnete Muster umgewandelt

Dies ist eine Eigenschaft an mir, die ich absolut liebe. Nicht nur, weil ich – ähnlich, wie ich Geräusche und Töne aus dem Alltag in Musik umwandeln kann – die Muster aufs Papier bringen, sie umformen, abwandeln, mit ihnen spielen kann. Sondern auch, weil dadurch einfach jede schnöde Umgebung interessant sein kann.

Nicht zuletzt beruhigen mich die Muster auch. Sie geben Sicherheit in der unkontrollierbaren Umwelt, in der ich flexibel reagieren muss und nicht alles selbst steuern kann, was mich (auch wenn man es mir nicht anmerken mag) sehr stresst.

Lenkt dich das nicht zu sehr ab?

Ich werde öfter verwundert angesprochen, wie ich noch zuhören kann, wenn ich zeichne. „Ich müsste mich da voll drauf konzentrieren, da ginge nichts anderes.“ Auch das ist bei mir anders herum. Natürlich konzentriere ich mich aufs Zeichnen, auf die Gleichmäßigkeit der Linien. Aber ich bin dann in einem Zustand, der mein Gehirn davon abhält, beim Zuhören ständig wild durcheinander zu assoziieren.

Ich habe im letzten Jahr bereits die Diagnose AD(H)S im Erwachsenenalter erhalten. Eine typische Zappelphillipine bin ich nicht. Auch die Konzentration an sich ist nicht meine Hauptbaustelle. Ich hatte mehr Probleme mit dem Umgang mit Impulsen und Emotionen, die mich oft blitzschnell aus der Bahn werfen konnten. Mittlerweile komme ich dank Medikation ganz gut klar dahingehend.

Ein Aspekt des AD(H)S ist aber auch, dass mein Gehirn ständig in Aktion ist und Neuronen feuert. Mit tausend Ideen, Einfällen und Assoziationen, sobald ich irgendeinen „Input“ von außen bekomme, z.B. wenn jemand etwas erzählt oder erklärt. Dadurch ist mein überaktives Hirn dann eben so am Gedanken durchwirbeln, dass es mir schwerfällt zu folgen.

Und genau da hilft mir die Konzentration auf die Muster extrem. Durch das Fokussieren auf immer wiederkehrende Strukturen, durch die Verlangsamung der Bewegungen, durch die Kontrolle, die ich dabei übernehmen kann, bin ich gut in der Lage, zuzuhören und das Gehörte zu sortieren, ohne dass meine Gedanken spazieren gehen.

Widerspruch AD(H)S und Gleichförmigkeit?

Ein Grund, weshalb ich darauf kam, irgendwann den Verdacht auf Autismus an mich heranzulassen, war der Widerspruch, dass ich gleichbleibende Strukturen und Tätigkeiten mag, nicht nur das, sondern dass ich stark auf sie angewiesen bin. Ich habe kein Problem damit, stundenlang zu puzzlen, Post zu sortieren, immer wieder dieselben Papiere zu bearbeiten und abzustempeln, wie es mir in meinen Praktika schon begegnet ist. Nein, ich liebe diese Tätigkeiten sogar, weil sie mir gut tun und meine Unruhe ausgleichen. Das hat nicht so richtig mit der AD(H)S-Diagnose zusammengepasst, mit dem Bedürfnis der meisten Autisten hingegen schon. AD(H)Sler brauchen die ständige Abwechslung, permanent neue Reize für ihr dopaminhungerndes Gehirn. Autisten das Gegenteil. Ich befinde mich irgendwo dazwischen und nicht selten hin und her gerissen zwischen beidem, wobei ich seit der Medikation ganz klar zu den autistischen Bedürfnissen tendiere und da auch sehr froh drüber bin.

Ich brauche feste Strukturen und Abläufe, wiederkehrende, berechenbare Vorgänge wie die Luft zum Atmen. Das heißt nicht, dass ich langweilig und per se unflexibel bin, ich mag auch Veränderungen. Aber nur, wenn ich sie selbst entscheiden und steuern kann. Alles, was unberechenbar von außen kommt, löst in mir Unbehagen und Stress aus. Unerwartete Zwischenfälle, die meinen Alltag beeinflussen, wie zum Beispiel, wenn ein Kind plötzlich krank wird und ich Zuhause bleiben muss, können mich derart aus der Bahn werfen, dass ich diese Aufgabe gar nicht erfüllen kann und jemand anderes übernehmen muss, aber auch viel kleinere und harmlosere Änderungen von gewohnten Abläufen können mich durcheinander bringen.

Ständige Anpassungsleistung

Innerhalb von festen Strukturen, wie zum Beispiel auf Arbeit, kann ich auch flexibel reagieren, in der Regel sogar ziemlich gut, zumindest solange ich nicht mit ständig wechselnden Personen bzw. Fremden zu tun habe. Aber es strengt mich an. Und wenn ich den ganzen Tag mit verschiedensten Anpassungsvorgängen zu tun hatte (die den meisten Nicht-Autisten gar nicht bewusst sind, weil sie dies automatisch und oft auch ohne große Mühe tun), brauche ich abends um so mehr meine Rituale und Zeit für mich.

Das kann das Musterzeichnen sein, aber auch schreiben, malen, puzzlen, aufräumen, putzen oder ähnliches.

Ich bin also tatsächlich ein Musterexemplar. Und das möchte ich gegen nichts in der Welt eintauschen. Diese Art der Wahrnehmung ist für mich total bereichernd und wohltuend.

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